Statthalter Gottes auf Erden sein

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Statthalter Gottes auf Erden sein

Bismillahir rahmanir rahim

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Am Pfingstwochenende fand wie immer die Tagung in der Imam Ali Moschee in Hamburg statt. Während der Altersdurchschnitt im Publikum für mich gefühlt jedes Jahr geringer wird, werde ich wohl älter, denn ich komme nicht mehr so gut hinterher  mit Filmen, mitschreiben, insgesamt dokumentieren. Deshalb erhebt meine Schilderung auch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und ist sehr subjektiv. Einen ersten Eindruck habe ich bereits bei Mariams Aussichten geschrieben, und danach war ich damit beschäftigt meine Computerprobleme zu lösen, u.a. bricht dauernd der Videoupload ab, insha Allah klappt es jetzt.Das Thema der Tagung war:

„Islamische Verantwortung für Familie, Staat und Gesellschaft“

Und die Messlatte, was wir als Muslime da anzustreben haben, hängt sehr hoch. Denn wir orientieren uns an dem, was Allah im heiligen Qur´an über die Schöpfung des Menschen sagt:

„Und als dein Herr zu den Engeln sagte: Ich bin dabei, auf der Erde einen Statthalter einzusetzen,
da sagten sie: Willst du auf ihr etwa jemanden einsetzen, der auf ihr Unheil stiftet und Blut vergießt? Wo wir dich doch lobpreisen und deine Heiligkeit lobsingen?! Er sagte: Ich weiß, was ihr nicht wisst!“ (Sure 2, Vers 30)
Der Mensch ist also Statthalter Gottes auf Erden, bzw. hat das Potential dazu, diese Position auch auszufüllen. Wenige Menschen haben diese Stufe erreicht, so wie der Prophet Muhammed, s.a.s., seine Tochter Fatima, a.s. und die reinen Imame, a.s.
Aber wir können es erreichen….
Für mich eine tröstliche und erhebende Vorstellung einerseits …andererseits erschrecke ich davor und sehe meine unzähligen Mängel und Fehler und wie ich schon beim Nachdenken darüber, ob ich je wieder in der Lage wäre, meine Rolle als Ehefrau so auszufüllen wie Allah es von mir will, in mittlere Panik verfalle und denke „das kann ich nicht“.
O.K., ich schenke mir da selber Verständnis, ich habe ja erst kürzlich mein Scheitern eingestehen müssen. Und obwohl das natürlich ganz und gar nicht mein alleiniges Scheitern war, bin ich doch kritisch mit mir selber und weiß, wie schwierig es manchmal sein kann, eine aufmerksame Ehefrau zu sein.
Dabei vergesse ich dann öfters, dass mit Liebe alles leicht geht. Und diese soll die Basis der Ehe sein, ja nicht nur der Ehe sondern unseres ganzen Lebens.
Das waren jetzt die einleitenden Worte zum ersten der beiden Vorträge, die ich etwas genauer darlegen will. Die anderen waren nicht weniger interessant, vor allem nicht der von Ayatollah Ramezani, dem Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg. Aber bei dem ist es besonders schwer mitzuschreiben, weil ja simultan übersetzt wird.
Aber zuerst gibt es eine Koranrezitation:
Also der Vortrag, der die Verantwortung der Muslime mit Schwerpunkt auf die Ehe und Familie betrachtete, war von Hodscha-tul-Islam Sabahattin Türkyılmaz. Sein Vortragsstil ist so humorvoll, dass garantiert niemand einschläft und trotzdem geht er in die Tiefe und verhilft zu einem besseren Verständnis.
Er sprach also über die Familie und fand in seiner Definition, dass Familie mit Mann und Frau anfängt. Und meinte, wenn in diesem Zusammenhang von der Statthalterschaft die Rede ist, dann betrifft das den Bereich der Werte, und nicht Mann und Frau als geschlechtliche Wesen, sondern einfach als Mensch. Und da gibt es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern.
Anders ist das ja in den Bereichen, in denen Mann und Frau in ihrer Geschlechterrolle angesprochen werden, oder in ihrer sozialen Identität. Da gibt es keine „Gleichberechtigung“, da haben Frau und Mann zwar den gleichen Wert vor Gott, aber in ihren Rollen haben sie unterschiedliche Rechte und Pflichten.
Hodscha-tul-Islam Türkyilmaz meinte, dass im heiligen Qur´an ungefähr 70% der Verse Mann und Frau als Mensch, also im Bereich der Werte angesprochen werden. Und fast 30% im Bereich ihrer sozialen Identität. Nur ein Minimum der Verse bezieht sich auf diese Geschlechterrolle. Und für alle Bereiche gibt es Gebote und Verbote.
Wozu heiraten? Dass an erster Stelle genannt wurde, dass man heiraten soll um seine körperlichen Bedürfnisse auf islamisch erlaubte Art zu befriedigen, hat mich schon überrascht. Das ist so……lebensnah. Und natürlich wahr. Über Sexualität zu sprechen ist auch oder gerade unter Muslimen nicht leicht, aber diese Anziehung zwischen Mann und Frau ist es doch, die erst einmal die Annäherung ermöglicht und die Bindung festigt. Als nächstes dann: „den Glauben zur Vollkommenheit entwickeln“ – ja, das wissen alle Muslime, dass die Ehe die „Hälfte der Religion“ ist, wie es in einem Hadith heißt. Dass sich zwei Seelenhälften finden und vereinigen sollen, oder wie Sheikh Türkyilmaz sagte „die zwei Hälften eines Apfels“. Weiter: „die Existenz der Menschheit sichern“: über die Nachkommenschaft. Hier könnte man, aber das wurde nur ganz kurz angerissen, etwas über „moderne“ Familienbilder sagen. Und: „die Ehe macht gesellschaftsfähig“. Hilft Egoismus zu überwinden. Wenn jemand sein Leben mit anderen teilt, lernt er alles zu teilen. Im islamischen Lebensmodell wird gesagt, dass man ohne Ehe und Familie niemals glücklich sein wird.
Verantwortung definierte H.Türkyilmaz über verschiedene Bereiche: Werte; Pflichten und Rechte.
Die Werte, so sagte er, kommen aus dem Geist.
Aufgaben, Pflichten aus dem körperlichen Teil.
Die Rechte aus der sozialen Identität.
Die Rolle die Frauen als Ehefrau und Mutter übernehmen, ist Teil ihrer sozialen Identität. Im Bereich der Werte, können Frauen grundsätzlich eine höhere Position erlangen als manche Männer – so wie die heilige Fatima a.s. den Rang der „Statthalterschaft“ erlangt hat und damit höher steht als manche Propheten, a.s., wie Ibrahim a.s. und Musa a.s.
Wobei das Prophetentum in den Bereich der Aufgaben fällt, während die Statthalterschaft ein Wert ist.
Das Zusammenleben in der Familie gestaltet sich dann für die heutige Mehrheitsgesellschaft ziemlich „unmodern“. Basierend auf dem heiligen Qur´an und Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Muhammed, s.a.s., und seiner Familie, ist es empfohlen, die Positionen von Außenminister (Versorgung, Schutz) und Innenminister (innere Angelegenheiten des Hauses, innerer Frieden, Erziehung) auf den Mann, bzw. die Frau zu verteilen – aber nicht zu 100%. Mann und Frau haben unterschiedliche Schwerpunkte was Vernunft und Gefühl angeht, aber keiner hat nur eines von beiden. Beide sollen sich in Liebe ergänzen. Und beide tragen große Verantwortung für die Familie und ihre Ehe.
Die Ehefrau hat Rechte gegenüber ihrem Mann, z.B., dass er die Familie versorgt, aber auch dass er ihr hilft bei der Arbeit im Haus. Und dass er Zeit mit ihr und der Familie verbringt. Der Ehemann hat Rechte auf die Aufmerksamkeit und Zuwendung seiner Frau, dass sie sich für ihn schön macht, aber sich vor anderen bedeckt hält. Und dass sie ihm in seinen Entscheidungen folgt (immer vorausgesetzt, die sind nicht gegen den Islam und völlig unvernünftig)
Aber, das war ein schöner Satz zum Schluss: „Verzeihen ist höher als Gerechtigkeit“.
Soll heißen: die Rechte jedes Partner bleiben immer bestehen. Aber wenn der andere mal nicht so handelt wie man es möchte, dann kann es besser sein, auf sein Recht mal nicht zu beharren.
In der Diskussion kam noch kurz der bekannte Hadith zur Sprache:
Die Eifersucht der Frau ist Unglaube und die Eifersucht des Mannes Glaube. (Ali ibn Abu Talib a.s.)
Ich fand es ganz reizend von Hodscha-tul-Islam Türkyilmaz, dass er bekannte diesen Ausspruch trotz intensiven Studiums nicht verstanden zu haben….und mir gefiel sehr, was Bruder Yavuz Özoguz dazu sagte, nämlich dass die Fragen dazu falsch gestellt würden. Es müsse heißen:
„Er darf sie nicht eifersüchtig machen und sie darf ihn nicht eifersüchtig machen“
Das war nun wirklich das schönste Schlusswort zu diesem Thema.
Mein Fazit: der Anspruch an uns Muslime, ja eigentlich an alle Menschen ist sehr hoch, unsere Verantwortung wirklich riesig. So dass es bei mir manchmal einen Weglaufreflex auslöst, bis ich wieder auf dem Teppich lande und erkenne, dass es die Schleier vor meinem Herzen sind, die es mir schwer machen, Allahs Liebe und Weisheit in seinen Worten zu erkennen. Schleier die ich inschaAllah mehr und mehr ablegen werde. Meine Schleier zu diesem Thema bestehen aus schlechten Erfahrungen, falschen Erwartungen und irrigen Vorstellungen darüber, wie ich als Frau geschaffen bin. Aus der Idee, ich müsse alles alleine machen und der bessere Mann sein…wo es doch so wunderbar ist, eine Frau zu sein und keineswegs schlechter als ein Mann.
Das ist kein neues Thema gewesen, hat mich aber gerade jetzt mal wieder ziemlich aufgewühlt. Aber das ist ja auch gut so.
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Der zweite Vortrag bei dem ich einigermaßen mitgeschrieben habe, war von Maher Faqih aus Oldenburg und beschäftigte sich mit der Islamischen Verantwortung gegenüber Nichtmuslimen – im Lichte des Briefes von Imam Chamene´i an die Jugend im Westen. Dieser Brief wurde inzwischen tausendfach von engagierten Geschwistern an junge Leute – oder Junggebliebene – verteilt. Dabei zeigt sich immer wieder, dass die Bevölkerung in vielen politischen Angelegenheiten, sei es israelische Politik, Saudi-Arabien, „Bankenrettung“ usw. ganz anderer Meinung ist, als es die Medien wiedergeben.
Bruder Maher Faqih leitete seinen Vortrag mit einer kleinen Imaginationsübung ein, die uns auf die gegenseitigen Bilder und Vorurteile zwischen Muslimen und Nichtmuslimen aufmerksam machte. Und er rief auf zur Einheit – zur Einheit mit den Nichtmuslimen, zusätzlich zu der Einheit unter den Muslimen, die auch Imam Chamene´i immer wieder fordert. Und die für viele schon so schwer zu leben ist, jedenfalls wenn man nach den Eindrücken geht, die ich immer wieder auf Facebook bekomme….aber das ist womöglich ein ebenso unzuverlässiges Medium wie unser „mainstream“.
Der Referent machte uns auf einige Hindernisse aufmerksam, die wir beseitigen sollten, um wahrhaftige „Briefträger“ für Imam Chamene´i sein zu können.  Um Friede in unseren Herzen zu erlangen.
  1. Islam in der Gemeinschaft leben: Wir sollten uns mehr in der Vereinsarbeit, in den Moscheen engagieren. Um Einzelgängertum und Egoismus zu überwinden. Imam Ali a.s. hat einmal auf die Frage, ob er lieber in der Moschee oder im Paradies sein möchte, geantwortet dass er lieber in der Moschee wäre, denn: „Wenn ich im Paradies bin, bin ich zufrieden. Wenn ich in der Moschee bin, ist Allah zufrieden“
  2. Mangelndes Selbstvertrauen trotz der Befreiungstheologie des Islam:  a) Hoffnungslosigkeit, Kraftlosigkeit und die Beschäftigung mit Nebensächlichkeiten b) viele haben Angst vor politischen Äußerungen
  3. Mangelnde politische und kulturelle Bildung: wir verzetteln uns in sinnlosen Shia-Sunni-Diskussionen und sind unwissend über die christliche Kultur (da bin ich froh, dass ich beide „Welten“ kenne). Wir sollten die Gemeinsamkeiten mit den Monotheisten suchen – schließlich ist jeder Mensch unser „Bruder in der Menschlichkeit“. Und die Imame a.s. waren und sind Diener des ganzen Volkes, nicht nur der Muslime
  4. Arroganz – ein großes Thema.
  5. Anerkennung des Führungsauftrags. Jede Gemeinschaft braucht ihren Führer. Würden sich die Muslime unter dem Imam al Umma versammeln, wären wir weiter (Kommentar von mir)

Als ein verbindendes Vorbild für Juden, Christen und Muslime führte Bruder Maher den Propheten Yusuf, a.s. an, dessen Geschichte in allen heiligen Büchern vorkommt (ich bin neugierig geworden, diese Quellen bald mal zu vergleichen und darüber zu schreiben).

Kurz beschrieben war Prophet Yusuf a.s. gütig, hat sich gegen Unterdrücker gewandt. Er war Migrant und hat die neue Heimat ganz angenommen, auch seine Familie nachgeholt, hat die Sprache erlernt und die Kultur verstanden, er war engagiert in Islam und Politik, hatte eine gepflegte Erscheinung. Hat eine Frau aus der neuen Heimat geheiratet und damit gezeigt, dass Nationalismus falsch ist. Seine Kinder hat er als Vorbilder erzogen. Mit diesem Verhalten ist er als Migrant, ehemaliger Sklave und Gefangener  in die höchsten Positionen aufgestiegen und das Volk hat ihn geliebt.

Zusammenfassend: Damit wir unsere Verantwortung als Muslime in der Gesellschaft richtig wahrnehmen können, müssen wir in erster Linie Selbsterziehung beteiben und unseren Hochmut loswerden. Damit wir den Geist Gottes in unseren Mitmenschen erkennen können.

Soweit meine kurzen Notizen aus diesem Vortrag. Alles ohne Anspruch auf Vollständigkeit und leider habe ich keine Mitschrift von anderen Vorträgen. Bei dieser Tagung haben wir mehr Arbeitsgruppen gehabt als gewohnt, aber die Vorstellungen der Teilnehmer daraus sind naturgemäß kurz gefasst.

Obwohl mir gerade im Nachhinein wieder einmal klar wird, dass natürlich nichts ausreichend behandelt werden kann in solch kurzer Zeit, bin ich doch wie immer ganz erfüllt aus der Tagung gegangen. Dazu tragen natürlich besonders die gemeinsamen Gebete bei, dieses Mal auch an beiden Abenden ein Dua Tawassul (s. Artikel bei Mariams Aussichten). Viele kleine Gespräche nebenher, so viele glückliche Gesichter, einfach die Gemeinschaft. Ich freue mich schon auf das nächste Jahr.

 Zum Abschluss der Vortrag von Dr. Yavuz Özoguz, der wie immer das Schlusswort gesprochen hat:

Eine Antwort »

  1. Salamu alaikum, liebe Mariam. Schöne Eindrücke von der Tagung!!! Kann ich nur bestätigen…….leider fühle ich mich als „älteres Semester“ dort von Jahr zu Jahr mehr unterrepräsentiert.

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